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Dichtestress und Müdigkeitsgesellschaft

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Dies herrliche Gerät auf dem Bild oben habe ich in einem Parkhaus der herrlichen kleinen Stadt St. Monica in Kalifornien für Sie aufgenommen, liebe Leser. Es löst ein Problem, das wir alle kennen: Wer ist nicht schon irgendwann mal durch ein überfülltes Parkhaus geirrt, auf der Suche nach dem eigenen Auto? Und wissen Sie, auf welches Stichwort mich das bringt? Dichtestress! Sie wissen ja, dass ich diese ganz leicht nerdische Faszination für Wörter pflege, meine Damen und Herren, und jetzt bin ich neulich von meinem alten Freund Herrn Haemmerli auf ebendies faszinierende Wort aufmerksam gemacht worden: Dichtestress. Zuerst habe ich «Dichterstress» verstanden. Daran leide ich nie. Oder dauernd. Wer wollte es sagen. «Nein, nicht Dichterstress», korrigierte mich hierauf Herr Haemmerli, «– Dichtestress.» Und ich verstand. Und sofort tauchten Bilder vor meinem lebhaften geistigen Auge auf: Wenn zum Beispiel Mitreisende in der Businessclass zu expansiv werden, sodass ich ihnen mit einer zusammengerollten Ausgabe von «Vanity Fair» auf die Finger klopfen muss (amerikanische Ausgabe, natürlich). Oder ich bei Yves Saint Laurent in Desert Hills eine zähe kleine japanische Seniorin im Kampf um die letzte iPad-Hülle niederringen muss. Dichtestress, Dichtestress!

Doch ebendiese spontan auftauchenden Bilder sind offenbar Teil des Problems, erklärte mir Herr Haemmerli. Denn der Begriff «Dichtestress» sei eigentlich ein populationsdynamischer Terminus aus der Verhaltensbiologie. Der besagt: Wenn es von einer Spezies zu viele auf einem Haufen gibt, dann sind die einzelnen Exemplare gestresst, werden krank etc. Seit 2008 nun aber, fuhr Herr Haemmerli fort, geistere dieser Begriff des Dichtestresses vermehrt durch eine ganz andere Sphäre, nämlich durch die politische Debatte unserer schönen Schweiz, tauche gerade im Zusammenhang mit Zuwanderung und den ausländerpolitischen Vorlagen in den Medien gehäuft auf, wo er (der Begriff) nicht selten völlig unreflektiert verwendet werde. Kurz: Es sei Zeit, ein kritisches Auge auf dieses Phänomen im veröffentlichten Diskurs zu werfen, und dies will ich jetzt tun, denn mich hat der Begriff des Dichtestresses neben dem überfüllten Parkhaus auch gleich noch an ein anderes Phänomen erinnert, zu dem ich ihn hier gern kurz in Beziehung setzen will: den Begriff der Müdigkeitsgesellschaft.

Stress als Leitkrankheit

«Müdigkeitsgesellschaft» ist der Titel eines kleinen Bändchens von Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Han ist mir entschieden zu wenig liberal, aber das heisst nicht, dass er in besagtem Bändchen nicht interessante Beobachtungen machen würde, zum Beispiel über die allgemeine Promiskuität, die heutzutage alle Lebensbereiche erfasse. (Na ja. Da würden sich einige Leute sicher freuen.) Und eine Hybridisierung, die nicht nur den aktuellen kulturtheoretischen Diskurs, sondern auch das heutige Lebensgefühl überhaupt beherrsche. Was nun die sogenannte «Müdigkeitsgesellschaft» und ihr Verhältnis zu einem Phänomen wie «Dichtestress» anbelangt, so ist der «Stress» als solcher zunächst einmal eine der «Leitkrankheiten» der spätmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, als Teil jener neuronalen Pathologien, die Han als bestimmend für die «pathologische Landschaft» unserer Epoche auflistet: Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), Burn-out-Syndrom (BS). Diese Pathologien sind laut Han nicht immunologisch zu bewältigen, also nicht durch Abwehr eines Negativen, anderen. Denn sie seien verursacht durch ein Übermass an Positivität, ein Zuviel am Gleichen, wie Han es etwas unbeholfen ausgedrückt. Und damit wohl etwas meint wie: «Wenn alle Autos gleich aussehen, finde ich meins nicht mehr.»

Han selbst vergleicht die Müdigkeitsgesellschaft mit der «Disziplinargesellschaft» von Michel Foucault (von dem ich übrigens noch weniger halte, aber das überrascht Sie auch nicht wirklich, meine Damen und Herren): «Foucaults Disziplinargesellschaft aus Spitälern, Irrenhäusern, Gefängnissen, Kasernen und Fabriken ist nicht mehr die Gesellschaft von heute», schreibt Han. «An ihre Stelle ist längst eine ganz andere Gesellschaft getreten, nämlich eine Gesellschaft aus Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors.» Wobei er zugleich ein paar meiner liebsten Orte aufgezählt hat. Egal. Weiter: «Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.» Und: «Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesellschaft.» Deren Bewohner «sind Unternehmer ihrer selbst». Und: «Diese Selbstbezüglichkeit erzeugt eine paradoxe Freiheit … Die psychischen Erkrankungen der Leistungsgesellschaft sind gerade die pathologischen Manifestationen dieser paradoxen Freiheit.»

Das erschöpfte Selbst – braucht Abwechslung

Und dann zitiert Han, natürlich, Alain Ehrenberg («Das erschöpfte Selbst»): «Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden.» Ich persönlich halte, wie Sie ebenfalls wissen, meine Damen und Herren, überhaupt nichts von Anschauungen, die dem Individuum immer sofort unterstellen, mit seiner Freiheit überfordert zu sein. Doch was den sogenannten Dichtestress angeht, so können wir aus all dem doch den Schluss ziehen: Das Problem ist nicht die Dichte, das Problem ist die Monotonie. Das «Zuviel des Gleichen», wenn alle das Gleiche konsumieren, alle die gleiche Frisur haben (gern mittellang für Philosophen), alle dasselbe Restaurant chic finden, alle das Gleiche wollen. Und so möchte ich folgendes Zwischenfazit ziehen: Gerade wegen der Dichte brauchen wir die Abwechslung.

Mit der Monotonie aber geht paradoxerweise Hektik einher. Und wenn man die Übertragung von Begrifflichkeiten aus Verhaltensbiologie und Zoologie auf soziale Dynamiken kritisiert (und es gibt gute Gründe dafür, das zu tun), muss man freilich auch Byung-Chul Han kritisieren. Denn im Kapitel «Die tiefe Langeweile» in der «Müdigkeitsgesellschaft» schreibt Han: «Die Zeit- und Aufmerksamkeitstechnik Multitasking stellt keinen zivilisatorischen Fortschritt dar. Das Multitasking ist keine Fähigkeit, zu der allein der Mensch in der spätmodernen Arbeits- und Informationsgesellschaft fähig wäre. Es handelt sich vielmehr um einen Regress. Das Multitasking ist gerade bei den Tieren in der freien Wildbahn weit verbreitet. Es ist eine Aufmerksamkeitstechnik, die unerlässlich ist für das Überleben in der Wildnis.» Und: «Nicht nur das Multitasking, sondern auch Aktivitäten wie Computerspiele erzeugen eine breite, aber flache Aufmerksamkeit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich ist. Die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen und der Strukturwandel der Aufmerksamkeit nähern die menschliche Gesellschaft immer mehr der freien Wildbahn an.»

Dichtestress und Hyperaufmerksamkeit

Wir haben es also, jenseits von Dichtestress, laut Han aufgrund der vielfachen Ansprüche an das spätmoderne Subjekt mit einem Gestaltwandel der Aufmerksamkeit zu tun. Dies findet Han bedenklich, denn: «Die kulturellen Leistungen der Menschheit, zu denen auch die Philosophie gehört, verdanken wir einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit.» Und: «Die Kultur setzt eine Umwelt voraus, in der eine tiefe Aufmerksamkeit möglich ist. Diese tiefe Aufmerksamkeit wird zunehmend von einer ganz anderen Form der Aufmerksamkeit, der Hyperaufmerksamkeit verdrängt.» Neben einer «sehr geringen Toleranz für Langeweile» sei diese «zerstreute» Form der Aufmerksamkeit gekennzeichnet durch den «raschen Fokuswechsel zwischen verschiedenen Aufgaben, Informationsquellen und Prozessen». Topoi wie «Dichtestress» bedienen diese Hyperaufmerksamkeit. Und das Ganze kann natürlich nicht gut enden. Dass «das menschliche Leben in einer tödlichen Hyperaktivität endet, wenn aus ihm jedes beschauliche Element ausgetrieben wird», sagt Han, habe bereits Friedrich Nietzsche gewusst, und zitiert aus «Menschliches, Allzumenschliches»: «Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Masse zu verstärken.»

Nietzsche kann man freilich zu fast allem zitieren. Und auch die Klage, «der Verlust des kontemplativen Vermögens», also «die Verabsolutierung der Vita activa», sei mitverantwortlich für «die Hysterie und Nervosität der modernen Aktivgesellschaft», ist nicht neu, und wer eine «Emphase des Tätigseins», die «Hyperaktivität und Hysterie des spätmodernen Leistungssubjekts» bemängelt, scheint irgendwie die Legionen zu übersehen, die ihre Hyperaufmerksamkeit sitzend zwischen Realityshows und Online-Welteroberungsspielchen streuen. Fazit: Ein bisschen mehr Abwechslung und Kontemplation – und weg ist der ganze Dichtestress. Die alten Rezepte sind tatsächlich manchmal die besten. Und wo habe ich jetzt schon wieder meinen Mercedes abgestellt?


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